Die Vielfalt, die Eigenart und die Schönheit – Eine Klage

Alle Menschen werden in Landschaften hineingeboren, die ihnen ihre Prägung mitgeben, ganz ungewollt und unbemerkt bis zu dem Tag, da der Mensch seine Geburtslandschaft verlässt und bemerkt, dass sich etwas in seinem Empfinden verändert. Bis dahin lebt er in seiner natürlichen Umwelt und nimmt sie in sich auf, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben. Ob Wattenmeer, Alpen oder Spreewald, die Prignitz, das Tiefland in Nordostdeutschland, jede Landschaft prägt sich ein in Herz und Seele dessen, der in ihr lebt. Landschaften haben eigene Düfte, ihre typische Windrichtung und ihren charakteristischen Boden. Wälder zeigen ihr eigenes Gesicht, Tiere und Pflanzen bilden eine einmalige, anderswo nie genauso wiederzufindende Gemeinschaft von Flora und Fauna, und all das erfährt ein Mensch eher nebenbei, ohne dass es extra besprochen wird. Es entsteht, es bildet sich ein Gefühl von Hierhergehörigkeit, das keiner Begründung bedarf. Diese Verankerung in einem vertrauten Landschaftsraum ist ein kostbares Gut. Sie kann nicht käuflich erworben werden, wir erwerben sie durch unser Dasein in ihr, in dem, was wir landläufig Heimat nennen.

Freier Blick ins Land – nur noch in Schutzgebieten möglich
Freier Blick ins Land – nur noch in Schutzgebieten möglich (Bild: Beate Blahy)

Seit dem Jahr 2010, dem Jahr, in dem das Erneuerbare-Energien-Gesetz ins Leben der Deutschen trat, verändern sich viele unserer Landschaften auf beunruhigende Weise, und damit verändert sich auch das Daseinsgefühl der Menschen, die dort wohnen, wo in großer Geschwindigkeit Biogasanlagen, Maismonokulturen, Windräder und mehr und mehr ausgedehnte Photovoltaik-Freiflächenanlagen große Flächen in der offenen Landschaft beanspruchen. Was wir hier, in der Uckermark im Nordosten Brandenburgs liebten, das Stille, das Ruhige, den freien Blick ins weite Land, das verloren wir, richtiger: es wird uns genommen. Die Harmonie einer über lange Jahrhunderte entstandenen Kulturlandschaft – sie schwindet. Feldrain und bunte Wiese sind der Effektivität der modernen Gift-Landwirtschaft schon zuvor zum Opfer gefallen. Nun schwindet auch das bisher noch weitgehend erhaltene Bild einer ausgedehnten, ländlichen Region, die ihre Aufgabe, Lebensmittel zu erzeugen, Weidetiere zu ernähren, Wälder wachsen zu lassen, die unser Klima schützen, nicht mehr wahrnehmen kann, denn das Land bekommt jetzt andere Aufgaben. In immer schnellerem Tempo werden die immer höheren Windräder in den Himmel gebaut, der doch bisher den Vögeln gehörte. Mit ihnen kommt immerwährende Unruhe, kommt Lärm, kommen unbekannte Phänomene, flackernde Lichter in der Nacht, die ihr Dunkel einbüßt. Dunkelheit ist ebenfalls ein hohes Gut, sie wird gebraucht, nicht nur für ruhigen Schlaf der Menschen. Vögel, Fledermäuse, Insekten, kleine und große Räuber der Nacht brauchen sie. Immer weniger Raum bleibt für die, die hier ihre überlieferten natürlichen Rechte haben. Bussard und Rotmilan, Weißstorch und Seeadler, altvertraute Silhouetten im Himmelsblau, sie werden selten, sie werden erschlagen von den rasenden Riesenrädern, die unsern ausgeuferten Lebensstil sichern sollen.

Kaum noch findet sich eine Perspektive in der Landschaft, in der nicht das Auge auf sich drehende Windradflügel stößt, wo nicht von fern wie dunkle Wasserflächen wirkende Solarpaneele aufschimmern und ein Fremdheitsgefühl erzeugen. Was das alte, nun fraglich gewordene Gesetz uns zugesichert hatte, den Schutz der Vielfalt, Eigenart und Schönheit unserer stets wertvoll genannten Landschaften, diese Zusicherung ist aufgehoben. Wir müssen unsere Heimatlandschaft nicht mehr verlassen, um ihrer verlustig zu gehen – sie wird uns gerade genommen. Und eine Krankheit macht sich breit, die neu ist im Kanon der bekannten Krankheiten, die Solastalgie genannt wird. Sie befällt immer mehr und ganz besonders Menschen, die auf dem Land, nicht in Städten wohnen, denn für sie vollzieht sich der Wandel hin zu einer Industrialisierung ihrer gewohnten natürlichen Umgebung unmittelbar und sehr schnell vor ihren Augen. Der Heimatverlust macht krank, und das ist messbar.

Warum aber geschieht das alles eigentlich? Ist das Daseinsgefühl der Landleute unwichtig? Es wird erklärt, dass es sich um eine Angelegenheit der öffentlichen Sicherheit handele. Es sei von überragender nationaler Bedeutung – das Land zu zerstören? Nein, die erklärte Absicht ist, unsere Haut zu retten, vor der nahenden Klimakatastrophe. Die wir selbst verursacht haben. Müssten wir nicht zuvor die Eigenschaften der eigenen Spezies: alles immer und immer mehr von allem haben zu wollen – auslöschen? Doch das ist undenkbar, scheint unmöglich, ein Zurück ist nicht vorstellbar. So wächst der Hunger auf Energie im noch schnelleren Maße, als die Windräder in den Himmel wachsen, und so bleibt es beim Wettlauf zwischen Hase und Igel. Man weiß, wie der ausging.

Wie die Landmenschen so sind, dauert es eine ganze Weile, ehe sie vollends begreifen, was geschieht und wie ihnen geschieht. Ihre Langmut und Duldsamkeit halten einige Jahre an, womöglich in dem Gedanken, dass es sicher bald wieder aufhört, wieder besser wird, die große und weitsichtige Politik doch erkennen wird, welche Fehler hier gemacht werden. Dreizehn Jahre nach dem Wirksamwerden des neuen Gesetzes sehen sie aber, dass es nicht mehr besser wird.

Wo ist Heimat geblieben
Wo ist Heimat geblieben? (Bild: Wilfried Bergholz)

Die Störche finden ihre altgewohnten Flugwege hin zu den Nahrungsflächen versperrt, zugestellt mit technischer Struktur, die sie besser respektieren, wollen sie nicht in den tödlichen Sog der Windradflügel geraten. Wer das nicht versteht, die Gefahr nicht erkennt, der kommt um. Das sind viele. Unter den Windrädern liegt unsere Lebensvielfalt erschlagen, und die Himmel werden leerer. Die elektrisch geladenen Zäune um die riesigen spiegelnden Freiflächenanlagen, die elektrische Energie für den immer wachsenden Bedarf des Menschen erzeugen, sperren all die kleinen und großen Tiere aus immer größeren Lebensräumen, die mal die ihren waren, dauerhaft aus, Raum wird knapp. Straßen werden breiter, Elektroleitungen werden höher und massiger, unübersehbarer und bedrohlich wirkend. Das Land verändert sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit, bis es das Land, das wir liebten und kannten, nicht mehr zu geben scheint. Wir wohnen in einer Industrielandschaft.

Der Verlust scheint endgültig und wächst an in hohem Tempo, Ohnmacht ergreift die, die Zeugen werden, und das Ende dieses Geschehens mag sich keiner vorstellen. Wie könnte es aussehen? Wird es eine Flucht sein, ein Verlassen der alten Räume, in denen die Wurzeln der Vorfahren noch stecken?

Vor der Flucht jedoch kommt der Widerstand, der Wille, die eigene Heimat, diesen hohen Wert, das Unersetzliche, zu retten, wiederzugewinnen, zu bewahren.

Wo ist Heimat geblieben?

Zur Autorin

Beate Blahy ist Natur- und Kranichschützerin sowie Autorin zahlreicher Bücher. Sie lebt mit ihrem Mann in der Uckermark in Brandenburg.

 

4 Gedanken zu „Die Vielfalt, die Eigenart und die Schönheit – Eine Klage“

  1. Das ist leider alles wahr ! Ich/wir kämpfen hier seit 13 Jahren gegen diesen Wahnsinn. Heute flog wieder ein Rotmilan mit Zweigen im Schnabel über unser Garten-Grundstück an der Elbe. (Nestbau ?). Die Windräder sind nur 600 m von unserem Reetdachhaus entfernt. Hoffentlich überlebt er ! Gestern war eine Goldammer im Garten. Natur pur.
    Beste Grüße aus HH-Neuengamme von Norbert Meyer-Ramien

  2. Liebe Frau Beate Blahy,
    Habe erst heute Ihren Artikel gefunden und gelesen. Großartig! Jeder Absatz hätte es verdient medial als “exposee” zu Denkansätzen zitiert zu werden! Bin sowieso ein Freund von “Zitaten”; für mein Geschmack wird viel zu wenig Gebrauch davon gemacht! Herzliche Grüße Ulrich Dorka

    1. Lieber Herr Dorka, unbekannterweise – ich danke Ihnen für Ihre worte… Ja, leider sind solche Texte nötig, und es ist seit seinem Erscheinen keineswegs besser geworden mit der Welt.
      Gern gebe ich den Artikel zur Veröffentlichung (?) oder Weitergabe frei. Mit freundlichen Grüßen, Beate Blahy

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