Ich wache auf. Ein komisches Gefühl überkommt mich. Ein erster Blick auf die Uhr. Halb Sieben. Es ist absolut still. Wir sind auf dem Land. Totenstille. Wenn ich zuhause in unserem Stadthaus am Waldrand aufwache, dringt ein wunderbares Vogelgezwitscher in unser Schlafzimmer. Und ich frage mich immer, was haben die Vögel schon so früh am Morgen zu erzählen? So beginne ich normalerweise den Tag. Von heiterem Vogelgesang umgeben.
Auf dem Land singen fast keine Vögel mehr. Nur vereinzelt hört man Vogelgezwitscher. „Where have all the birds gone?“
Ich ging noch zur Schule und kann mich noch gut an die ersten massiven Veränderungen in meinem Dorf erinnern. Erst kamen riesige Bagger angefahren. Dann kamen große LKWs. Es wurde laut im Tal und es ging richtig zur Sache. Hinter unserem Haus gab es einen Hohlweg, der zum Kiesbuckel führte. Im Sommer war es dort schön schattig und Singvögel bauten ihre Nester in die Weißdorn-und Schlehenhecken. Auch Heckenrosen und Pfaffenhütchen wuchsen dort, und Obstbäume. Im Frühling blühte und duftete es überall.
Bienen, Hummeln, Schmetterlinge, und alle möglichen Insekten schwirrten in der Nähe der Hecken. Diese schönen Hecken wurden die ersten Opfer der Flurbereinigung. Als nächstes musste mein geliebter Kiesbuckel weichen. Wir Kinder rutschten dort immer runter und danach waren unsere Unterhosen voller Kies.
Nachdem alle Hecken und Bäume entfernt waren, wurde „mein“ Kiesbuckel einfach in den Hohlweg geschoben und eine ebene, eintönige Fläche entstand. Jetzt war der Kiesbuckel weg und der Hohlweg auch. Einfach weg. Alles flurbereinigt.
Vogelnester, Wachholderweiden, Frühlingsenzian, Feldthymian, alles fort. Es wurde geschoben, gefällt, plattgewalzt, rausgerissen und begradigt. Mein schöner Buckel hinter dem Haus war auch nicht mehr da. Glattrasiert und kahl. Diesen Sommer suchte ich nach rosa blühendem und herrlich duftendem Thymian vergebens.
Nun waren die Feldwege dran. Verbreitert, begradigt und geteert.
Viele Gräben hatten ursprünglich durch die kleinen Wiesenstücke geführt und so eine natürliche Grenze zur Nachbarwiese gebildet. Nun legte man sie mit Betonschalen aus oder schüttete sie einfach zu. Ehemals kleine Wiesenstücke wurden zu großen Flächen zusammengefügt. Danach waren wilde Tulpen, Sumpfdotterblumen und Trollblumen auf unserer Wiese am Bach verschwunden. Jeder Bauer bekam seinen großen Fleck zugeteilt. Erst sah es so aus, als ob die Arbeit auf dem Feld für die Kleinbauern des Dorfes einfacher würde. Aber nicht jeder war über die Neuordnung glücklich. Muss das sein? War es vorher nicht viel schöner? Bringt das wirklich so viel? Laut geäußert hat sich kaum einer. Der Tenor im Dorf war und ist auch heute noch: „Ich will nichts gesagt haben und auch bloß in nichts hineinkommen“.
Bis in die 70 er Jahre gab es noch ca. zwanzig Bauernhöfe im Dorf. Dort arbeiteten Bauern, die ihr Land einerseits bewirtschafteten, andererseits aber auch pflegten. Durch viel Handarbeit waren die Bauern näher an der Natur und so eher in der Lage ein achtsames Bearbeiten der Wiesen und Äcker zu bewerkstelligen.
Alle Familienangehörigen mussten mit anpacken, besonders in den intensiven Phasen, wie bei der Heuernte. Ein geschäftiges Treiben war auf den Feldern und im Dorf zu beobachten. Stolz berichteten sich die Bauern gegenseitig: „ Heute haben wir zehn Heuwagen eingefahren. Wir sogar dreizehn!“ Jeder leistete seine Arbeit. Abends saß man müde, aber zufrieden beim Abendbrot und schwätzte bis tief in die Nacht hinein. Ich habe diese Zeit der Heuernte geliebt.
Nach der Flurbereinigung kam die Zeit der EU-Subventionen. Große Höfe konnten mit hohen Subventionen durch die EU rechnen. Die Kleinbauern nicht. Was hat sich meine Mutter darüber aufgeregt. Nicht ohne Grund, denn für die Kleinbauern und Nebenerwerbsbetriebe wurden die Zeiten schwierig. „Die wollen, dass wir aufhören.“ Und so geschah es auch. Ein Bauernhof nach dem anderen musste aufgeben.
Es blieben nur noch wenige Großbauern übrig und sie kauften alles auf oder pachteten Land dazu. Für einen Spottpreis wechselten die Felder die Eigentümer. Die Dorfbewohner suchten sich Arbeit in der nahe gelegenen Stadt und blieben im Dorf nur noch zum Wohnen und Schlafen. Heute gibt es in „meinem“ Dorf noch zwei bis drei Bauernhöfe.
Durch diese Veränderung wurde der naturfeindlichen Monokultur, oder industrialisierten Landwirtschaft Tür und Tor geöffnet. Nicht die Bauern hatten es durch die Flurbereinigung leichter, sondern die nun aufkommenden landwirtschaftlichen Unternehmer.
Mit großen Traktoren donnern sie heutzutage über die vorher sensibel gepflegten Wiesen und Äcker und verteilen Düngemittel, Pestizide und zum Himmel stinkende Gülle auf den Feldern. Alles wird mit riesigen Maschinen bearbeitet. Der landwirtschaftliche Unternehmer sitzt erhöht auf seinem großen Traktor und sieht gar nicht mehr, was er gerade bearbeitet. Es interessiert ihn auch nicht, wichtig ist nur der Ertrag. Er kennt seine Kühe nicht mehr, wieso auch. Sie werden automatisch gefüttert. Auf die Weide kommen sie nur noch selten. Im Mai werden die Wiesen schon gemäht und dann noch vier bis fünf Mal im Jahr. Das Gras wird gleich mitgenommen oder in Ballen gepresst. Duftendes Heu? Fehlanzeige.
Das Land und die Tiere werden ausgebeutet. Um noch mehr Ertrag aus den Wiesen rauszuholen zu können, mäht der landwirtschaftliche Unternehmer seine Wiesen so früh, dass keine Blume mehr zum Blühen kommt. Keine Margeriten, keine Glockenblumen, keine Lichtnelken, kein Wiesensalbei, nur noch einheitliches, müdes Grün prägt die Wiesen. Auf den Äckern wachsen vorzugsweise Mais und Getreide. Kornblumen, Ackerrittersporn, Ackersteinsame, Erdrauch oder Klatschmohn sucht man dort vergebens. Obstwiesen, Feldrain und Blumenwiesen sind verschwunden. Eine einheitliche Langeweile und Einöde hat sich im sogenannten ländlichen Raum breit gemacht.
Singvögel gibt es nur noch wenige. Keine Spatzenbande vor dem Haus. Schwalben? Keine. Zwei oder drei Stare sitzen auf dem Strommasten. Wachholderdrosseln, ein paar. Noch kreisen Rotmilane, Schwarzmilane, Mäusebussarde und Turmfalken am Himmel. Noch. Das letzte Rückzugsgebiet für die Wildtiere, der Wald, wird jetzt mit Windrädern vollgestellt. Das EE-Gesetz macht es möglich und schon wieder gibt es Subventionen. Diesmal für die Windradbetreiber. Der Wald wird zum Gewerbegebiet. Riesige Windräder dominieren den Horizont. Und sie töten Singvögel, Greifvögel, Störche und Fledermäuse. Das Dorf ist umzingelt davon und ein Ende ist nicht absehbar. Ein Leben im Einklang mit der Natur, das war einmal. Vom Winde verweht.
Nachts träume ich von Blumenwiesen. Ich pflücke herrliche Sträuße mit Margeriten, Glockenblumen, Lichtnelken und Wiesensalbei. In den Äckern blühen Klatschmohn, Kamille, Kornblumen und Ackerrittersporn. Die Feldlerchen singen. Es summt und brummt.
Ich beobachte Vögel, die eifrig hin und her fliegen um ihre Jungen zu versorgen. Ich sehe Dutzende von Greifvögeln, die den mähenden Traktoren hinterher fliegen. Plötzlich fliegt ein Schwarzstorch mit zwei Jungen vorbei. Mäusebussarde kreisen…
Anmerkungen der Redaktion
Die Fischach ist ein kleiner Fluss im Landkreis Schwäbisch Hall im nordöstlichen Baden-Württemberg
Ich habe rund 10 Jahre in Heidelberg gewohnt, eines unserer Kinder lebt mit Familie in der Nähe. Daher kenne ich die südliche Bergstraße (Westrand des Odenwalds zwischen Heidelberg und Darmstadt zur Oberrheinischen Ebene).
Hier wächst die Metropolregion Rhein-Neckar, das Mannheimer Ballungsgebiet in einst kleinstädtisch-dörfliche Strukturen hinein. Man erkennt es deutlich an den neuen Gewerbegebieten und den stattlichen Wohnsiedlungen, die sich ins Land ausbreiten.
Die Bergstraße ist noch immer schön; man sollte den Siedlungsbau nun aber bremsen – und zugleich sozialverträgliche Mietpreise in den Ballungsräumen einfordern!
Ein Wort zum Leben im Einklang mit der Natur.
Die Entwicklung weg von einer weitgehend Handarbeit erfordernden, dörflich organisierten Wirtschaft zu einer auf technischer Innovation beruhenden, weltweit vernetzten Industriegesellschaft ist unumkehrbar. Man täte unseren Enkeln nichts Gutes, wenn man vergangene Lebensweisen idealisiert und deren Engen verschweigt; überspitzt ausgedrückt: Wenn man heute geografisch und intellektuell offene Bewusstseinsräume wieder verschließen möchte.
Es geht aber darum, den gierigen Zugriff auf noch naturnahe Landschaften, Landschaftsbereiche zu blocken. Es geht darum, das Prinzip “Alles mit Marktwert ist Handelsgut” hier zu durchbrechen. Es geht darum, den Eigenwert der Natur anzuerkennen, sie als unsere Lebensgrundlage zu erkennen. Heute geht es insbesondere darum, Naturgüter nicht zur Finanzierung von Konkurrenzkämpfen auszubeuten.
Rudolf Ahrens-Botzong,
Ludwigswinkel / Südwestpfalz
Armer Rudolf Ahrens-Botzong, die intergalaktisch weit geöffneten intellektuellen Bewußtseinsräume in der Metropolregion Rhein- Neckar waren wohl doch nicht so angenehm. Ansonsten wäre wohl kein Tausch mit Ludwigswinkel im Pfälzer Wald erfolgt!!!