Zukünftige Landschaftsbilder und ihre ästhetischen Erlebniswirkungen

Ein Gastbeitrag von Prof. Werner Nohl  (Teil III)

Wurde in den Beiträgen 1 und 2 erläutert, wie ästhetisch wirksame Landschaftsbilder entstehen, so soll hier der Versuch gemacht werden zu ermitteln, welchen Landschaftsbildern wir wohl in der nächsten Zukunft und darüber hinaus begegnen werden. Schon seit geraumer Zeit ist zu beobachten, dass sich die landschaftsästhetische Erfahrung der Menschen nicht mehr an einer einheitlichen ästhetischen Wunschnatur orientiert. Solange Landschaft als Ausdruck des göttlichen Willens betrachtet wurde, wurde sie fast durchgehend im ästhetischen Modus des Schönen erlebt. Seit aber die Welt und damit auch die Landschaft entzaubert sind, seit der Markt an die Stelle des göttlichen Willens getreten ist, hat sich das Schöne als einziger ästhetischer Ausdruck attraktiver Landschaftsbilder nicht halten können. Der Markt als allgemein akzeptierter Ausdruck gesellschaftlichen Bedarfs sorgt heute aber auch für eine stetig wachsende Funktionalisierung der Landschaft durch Besiedlung, Verkehr, Ent- und Versorgung usw., und andererseits für eine fortgesetzte Intensivierung der Land- und Forstwirtschaft auf den verbliebenen Flächen – mit weitreichenden landschaftsästhetischen Folgen.

So lassen sich heute mit Blick auf diese veränderte landschaftliche Wirklichkeit wenigstens vier Landschaftsausprägungen identifizieren, die das ästhetische Bild unserer Landschaften sicher in der nächsten Zukunft bestimmen werden (Nohl, 2010; 2015: 273f.):

  1. Reste der traditionellen, bäuerlichen Kulturlandschaft;
  2. Spontanlandschaften (Brachen, Sukzessionsflächen, Vorwälder u.ä.);
  3. rurale Produktionslandschaften (intensiv genutzte Agrar- und Forstbereiche, die oft auch als Träger von Straßen, Freileitungen, Windkraftanlagen u.a. „sperrigen“ Infrastrukturen fungieren), und
  4. periurbane Landschaften (Landschaftsbereiche im Umland der großen Städte, die in auffälliger Weise mit Siedlungsstrukturen wie Wohngebieten, Industrieflächen, Gewerbegebieten und anderen, nicht land- und forstwirtschaftlichen Nutzungen durchsetzt sind).

Diesen Landschaften lassen sich prototypisch bestimmte landschaftsästhetische Erlebensmodi zuordnen, wie

  • das ‚Schöne’ (als Erlebensmodus traditioneller Kulturlandschaften),
  • das ‚Wilde’ (als Erlebensmodus der Spontanlandschaften),
  • das ‚Nüchterne’ (als Erlebensmodus der Produktionslandschaften), und
  • das ‚Interessante’ (als Erlebensmodus der periurbanen Landschaften).

Demnach zählen  ‚schöne Landschaftsbilder’ auch in Zukunft noch zu den grundlegenden ästhetischen Erscheinungsbildern der Landschaft, jedoch stellen sie nur noch einen ästhetischen Bildtyp unter mehreren dar. Um besser zu verstehen, was mit diesen prototypischen Landschaftsbildern gemeint ist, seien sie hier kurz hinsichtlich ihrer landschaftsästhetischen Erlebniswirksamkeit skizziert.

(1) Schöne Landschaftsbilder: Wenn es um landschaftliches Erleben geht, suchen viele Menschen auch heute noch nicht nur nach beglückender ästhetischer Erfahrung schlechthin sondern nach ‚schöner’ Erfahrung. Diese finden sie vor allem in den Landschaftsbildern der (traditionellen) Kulturlandschaft.

In “schönen” Landschaftsbildern spiegelt sich die Harmonie der Kulturlandschaft und es offenbart sich die landschaftliche Eigenart als Träger des Heimatlichen.

Deren mehr oder weniger bekannte Elemente befinden sich immer schon in einer ausgewogenen ‚harmonischen‘, eben in einer ‚schönen‘ Ordnung, die sich am besten aus einer gewissen Distanz, z.B. von einem Aussichtspunkt aus und mit kontemplativem Blick erfassen lässt. Mit dieser harmonischen Ausgewogenheit werden spezifische symbolische Inhalte und Botschaften verbunden, die auch heute noch weitgehend verstanden werden, und den anhaltenden „utopischen Überschuss der Kulturlandschaft“ erklären können. In diesem Sinne ist „die Aktualität des Schönen“, von der der Philosoph Gadamer (1983) noch vor wenigen Jahrzehnten gesprochen hat, ungebrochen.

Man geht wohl nicht fehl, wenn man hinter ‚schönen Landschaftsbildern’ vor allem das ästhetische Bedürfnis nach Heimat vermutet, das sich insbesondere an der landschaftlichen Eigenart entzündet. Es ist der heimatliche Blick, der im ästhetischen Erkennen die Harmonie bevorzugt und sich am Schönen delektiert.

(2) Wilde Landschaftsbilder: Die ästhetische Motivation zur Landschaftswahrnehmung eines Betrachters kann auch anderen ästhetischen Wertorientierungen als dem Schönen folgen. So hat die nach dem zweiten Weltkrieg wieder einsetzende starke Naturorientierung einen neuen ästhetischen Bildtypus entstehen lassen, der vielleicht am besten mit dem Begriff des ‚Wilden’ beschrieben wird.

Wie auf Brach- und Sukzessionsflächen, in Bauernwäldern – und anderen weitgehend sich selbst überlassenen Arealen, die also der bewussten Kontrolle des Menschen für längere Zeit entzogen sind, erlebbar, liegt der ästhetische Zauber der ‚wilden Landschaftsbilder’ wohl insbesondere im Erlebnis der aller Spontannatur anhaftenden Selbstregulierungskraft, Selbstproduktivität und Eigendynamik der Natur. Das Wilde signalisiert dem Betrachter, dass noch nicht alles in dieser Welt dem menschlichen Zugriff ausgesetzt ist.

Unordnung, Fragmentierung und Zerfall als Charakteristika “wilder” Landschaftsbilder.

Die ästhetisch gewünschten Gestaltprinzipien ‚wilder Landschaftsbilder’ können nicht Ordnung und Harmonie sein; vielmehr überraschen und locken uns solche Landschaften eher mit einer gewissen Unordnung, Diskontinuität, Fragmentierung, Unstetigkeit und Disharmonie. Im Gegensatz zu den ‚schönen Landschaftsbildern’ der traditionellen Kulturlandschaft, in denen uns das Ästhetische aufgrund von Ordnung und Harmonie unmittelbar und ohne Anstrengung berührt, verwickelt uns die ästhetische Qualität des Wilden in eine permanente Auseinandersetzung mit den Mysterien, Überraschungen und Rätseln des spontanen Wachstums wie auch des Zerfalls, und dieses Engagement ist die Quelle des ästhetischen Vergnügens an den ‚wilden Landschaftsbildern’.

(3) Nüchterne Landschaftsbilder: Sie stellen die typischen Erscheinungsbilder der oft großen Gebiete mit mehr oder minder intensiver Agrar- und Holzproduktion dar, die in ihrer Gesamtheit den wohl ausgedehntesten landschaftsästhetischen Erlebnistypus der Zukunft bilden. Heute sind diese land- und forstwirtschaftlichen Flächen in weiten Bereichen relativ ausgeräumt und strukturarm, und dienen zudem häufig als Träger großtechnischer Einrichtungen wie Straßen, Freileitungen, Windkraftanlagen usw. Mit Blick auf die dicht besiedelte Bundesrepublik müssen sie aber in Zukunft als landschaftsästhetische Erfahrungsräume nicht nur für die örtliche Bevölkerung in den Dörfern sondern auch für die große Zahl Erholung suchender Bewohner aus nahe liegenden Städten und Stadtagglomerationen entsprechend den ästhetisch-sinnlichen Ansprüchen, die auch an ‚nüchterne Landschaftsbilder’ zu stellen sind, deutlich aufqualifiziert werden. Um dem Nüchternen als einer belebenden ästhetischen Kraft begegnen zu können, werden sich die Produktionslandschaften in Zukunft einen Umbau gefallen lassen müssen. Sie werden sich durch ein Netz naturnaher und prägnanter Elemente und Strukturen auszeichnen müssen, ohne dass dadurch die agrarischen oder forstlichen Grundfunktionen dieser Flächen besonders eingeengt würden. Es muss endlich die alte Forderung eingelöst werden, 10 Prozent der Produktionslandschaften aus der Nutzung heraus zu nehmen‚ um sie ästhetischen und ökologischen Aufgaben zuzuführen. Zugleich ist dafür Sorge zu tragen, dass die ‚nüchternen Landschaftsbilder’ so weit wie möglich von großtechnischen Strukturen frei bleiben, die – wie vor allem Windkraftanlagen und Hochspannungsleitungen – in ihrer Vielzahl eine gigantisch hohe dritte Dimension in die Landschaft einziehen, gegen deren erdrückende Wiederkehr des ewig Gleichen sich kein Betrachter wehren kann.

Deutsche Energielandschaft mit Windkraft und PV-Anlagen.

Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, werden auch die ‚nüchternen Landschaftsbilder’ kleine und größere Überraschungen und Wunder bereit halten, und so ihren ästhetischen Charme entfalten können, auch wenn der Anlass dazu meist menschlichen Eingriffen geschuldet ist.

Nicht unähnlich den Wahrnehmungsmodalitäten in weiten, offenen Landschaften – wie z.B. in Prärien – interessiert sich im Nüchternen der ästhetische Blick vermehrt für die Erlebnismöglichkeiten atmosphärischer Ereignisse wie Wolkenbilder, Nebeleffekte, Raureifbildungen usw. Auch verwundert es nicht, dass die intensiv bewirtschafteten Landschaften nicht selten als Heimatlandschaften empfunden werden. Heimat im Nüchternen zu finden, ist nicht unmöglich, setzt freilich ein aufmerkendes, auch an scheinbar unwesentlichen Dingen interessiertes Subjekt voraus. Werden einem in der traditionellen Kulturlandschaft mit ihren schönen Landschaftsbildern Heimaterlebnisse quasi geschenkt, setzt das Entstehen von Heimatgefühlen in Produktionslandschaften mit ihren ‚nüchternen Bildern’ eher ein deutliches Bemühen voraus. Gewiss, die nüchternen Landschaftsbilder werden sich immer durch eine gewisse Kargheit auszeichnen, die eine „Allianztechnik“ (Bloch) des wirtschaftenden Menschen mit der Natur nahe legt. Aber mit den notwendigen ästhetischen und ökologischen Aufbesserungen könnten auch die nüchternen Landschaftsbilder ästhetisch zuträglich werden und dem Betrachter zu dauerhaften Gefühlen der Zufriedenheit und Dankbarkeit verhelfen.

(4) Interessante Landschaftsbilder: Im ästhetischen Sinne stellen die peri-urbanen Landschaften mit ihren oft anarchisch verstreuten Flächennutzungen wie Wohnsiedlungen, Industrie- und Gewerbegebieten, landwirtschaftlichen Gehöften, Gartenbaubetrieben, Sport- und Freizeiteinrichtungen, Kleingartenanlagen, Biotopen, Waldstücken, Freileitungen, Deponien, Kläranlagen usw., aber auch mit ihren Feldern, Wiesen und Wäldern, die all die anderen Nutzungen umfließen und zusammenhalten, nicht selten die ‚schrillsten’ Landschaftsbilder dar.

Ästhetisch betrachtet erfüllen sie die Menschen zwar nicht mit Lust, beeindrucken sie aber wegen der oft heftigen Entwicklungsdynamik und der harten Konfrontation von natürlichen und baulich-technischen Elementen. Daher seien diese Landschaftsbilder im Folgenden mit dem Label ‚interessant’ gekennzeichnet. Modellhaft lassen sich ‚interessante Landschaftsbilder’ am Topos der Baustelle verdeutlichen. Bekanntlich sind Baustellen für viele Menschen attraktiv, obwohl oder gerade weil sie sich durch eine sinnlich und gedanklich nur schwer koordinierbare Fülle an Gegenständen, Materialien, Vorgängen, Ereignissen, Menschen usw. auszeichnen. Bei Baustellen kann der Plan, der dem scheinbaren Chaos zugrunde liegt, nur durch erhebliche Sinnes- und Geistesarbeit aufgedeckt werden, und je mehr Ungereimtheiten und Rätsel dabei gelöst werden, umso attraktiver – im Sinne ästhetischen Vergnügens – sind sie. Ähnliches gilt für die ‚interessanten Landschaftsbilder’ in den peri-urbanen Entwicklungsräumen. Anders als in den schönen Bilder der traditionellen Kulturlandschaft, in denen die landschaftliche Ordnung immer unmittelbar sinnlich zugänglich ist, muss sie in den ‚interessanten Landschaftsbildern’ oftmals erst durch kognitive Arbeit des Betrachters Stück für Stück aufgedeckt werden. Je besser das gelingt, umso attraktiver – im ästhetischen Sinne – ist das Interessante.

Wie sich schon bei den nüchternen Landschaftsbildern der intensiv genutzten Agrar- und Waldlandschaften zeigte, kann sich auch das Interessante als dominanter Erlebensmodus der peri-urbanen Landschaftsräume derzeit nur ungenügend entfalten. Denn selbst da, wo noch viel landschaftliche Fläche vorhanden ist, mangelt es dieser oft an Natur-Charakter und Gestaltqualität, sie vermag daher nicht, ein ästhetisch wirksames Gegengewicht zu den harten und ausgedehnten urban-baulichen Strukturen herzustellen.

Nur wenn die verbliebenen landschaftlichen Bereiche, die in der Regel land- und forstwirtschaftlich genutzt sind, mit Naturelementen wie Bäumen, Hecken, Feucht- und Trockenbiotopen, Rändern und Säumen aufqualifiziert werden, können in den peri-urbanen Räumen die Grundlagen für ästhetisch dauerhaft wirksame ‚interessante Landschaftsbilder’ gelegt werden. Wie für die nüchternen Landschaftsbilder der ausgedehnten Produktionslandschaften gibt es also auch für die ‚interessanten Landschaftsbilder’ in den peri-urbanen Räumen – ästhetisch gesehen – noch erheblichen Entwicklungs- und Umbaubedarf, wenn uns hier in Zukunft das Landschaftsbild als Lebenselixier ansprechen soll.

In peri-urbanen Landschaften sind naturverträgliche Erholungseinrichtungen oftmals an der ästhetischen Attraktivität ‚interessanter’ Landschaftsbilder beteiligt.

Ist aber die Frage nach den Landschaftsbildern der Zukunft nicht müßig, weil uns unser ästhetisches Erleben in die Gene eingeschrieben ist, die ästhetischen Präferenzen also ein für allemal biologisch vorgegeben sind, und damit festliegt, was ästhetisch zuträglich und schön ist? Sind unsere landschaftsästhetischen Erlebnisse tatsächlich nur Spiegelungen genetisch verankerter Sachverhalte, die uns beim Betrachten von Landschaft über neuronale Impulse unwillkürlich und triebhaft vermittelt werden, oder gibt es so etwas wie einen freien Willen, der uns Menschen ermöglicht, selbst- und mitzubestimmen, was wir in welchen Landschaften ästhetisch als lustvoll ansehen wollen? Abgesehen davon, dass aller Wahrscheinlichkeit nach Umwelt und Kultur dauerhafte Markierungen in unseren Genen, also epigenetische Spuren hinterlassen können, unterliegen wir in unserer landschaftsästhetischen Wertschätzung auch unseren Gewohnheiten, wie sie etwa in unseren frühkindlichen Prägungen zum Ausdruck kommen. So sind wir immer auch von unserem sozialem Umfeld beeinflusst, denn, wie schon erwähnt, existieren wir nicht monadenhaft verschlossen gegenüber unserer Mitwelt. Die ästhetische Wertschätzung ist demnach zuallererst ein Bewusstseinsvorgang, der dadurch zustande kommt, dass wir, wie dargelegt, trotz mancher Hemmnisse im unmittelbaren Akt des Landschaftserlebens schöpferisch-autonom wahrnehmen, interpretieren, fühlen und werten. Die damit verbundenen Entscheidungen speichern wir in unserem Gedächtnis und kommunizieren sie mit anderen, sobald wir uns in ästhetischen Urteilen äußern. Das Entstehen von Landschaftsbildern ist also in erheblichem Maße an kulturelle Lernprozesse gebunden.

Gewiss, dass wir überhaupt begehren, wahrnehmen, denken, fühlen und uns erinnern können, ist unserer biologischen Existenz geschuldet. Alle diese psychischen Fähigkeiten, ohne die landschaftsästhetische Erlebnisse nicht zustande kommen könnten, sind Teil unserer biologischen Grundausstattung. Zu den biologischen Besonderheiten gehört auch, dass unter den vielen Sinnesreizen, denen wir auch in der Landschaft ständig ausgesetzt sind, bestimmte Strukturen besser wahrgenommen werden als andere. Bevorzugt aufgenommen werden beispielsweise jene Reize im Wahrnehmungsfeld, die wegen ihrer Größe, ihrer Prägnanz, ihrem Klang, ihrer Leuchtkraft, ihrer Bewegung usw. sozusagen „ins Auge springen“, weil sie sich mit diesen Eigenschaften deutlich gegen den großen Rest des Wahrnehmungsfeldes abheben, also in starkem Kontrast zu ihrer Umgebung stehen.

Mit dieser die sinnliche Wahrnehmung betreffenden Erkenntnis ist aber noch keineswegs die ästhetische Wertschätzung von Landschaftsbildern erklärt. Skifahrer und Wanderer z. B. beurteilen Skilifte und sonstige Aufstiegshilfen im Gebirge in ästhetischer Hinsicht meist sehr unterschiedlich, und doch nehmen beide vor Ort das Gleiche wahr (Nohl & Neumann, 1987). In der Zuordnung ästhetisch-emotionaler Werte zu bestimmten Landschaften und Landschaftselementen erweist sich der Mensch als Subjekt der Kultur, gleichgültig ob er sich dabei auf seine individuell-biographischen Erfahrungen, auf bezugsgruppenspezifische Einstellungen oder gesellschaftlich vermittelte Werte stützt.

Es ist in der Verhaltensbiologie viel darüber doziert worden, dass sich die frühe Entwicklung der Menschheit in der afrikanischen Savanne abgespielt habe, und die Menschen deshalb heute ähnlich aufgelockerte, eben parkartige Landschaften ästhetisch bevorzugen würden (z.B. Orians & Heerwagen, 1992). In dieser evolutionsbiologischen Argumentation spielen kulturelle Überlegungen kaum eine Rolle. Ästhetische Präferenzen und Werthaltungen sind hier genetisch erklärt, und werden mit der Überlebensfreundlichkeit der Savanne (energiehaltige Nahrung, Sicherheit durch Sichtschutz usw.) begründet. Insbesondere die “Prospekt-Refuge-These“ des englischen Geografen Jay Appleton (Appleton, 1975), wonach die Savanne durch ihren lockeren Baumbestand Überblick und Fluchtmöglichkeit in einem bietet, folgt dieser biologischen Argumentation. Wenn aber das ästhetische Vergnügen an Landschaft tatsächlich biologisch begründet wäre, eben weil die Savanne das “Sehen und Nicht-gesehen-werden“ (Lorenz, 1992) fördert, dann fragt man sich freilich, warum heute viele Menschen z.B. an Stränden oder in offenen städtischen Grünflächen genau das Gegenteilige wollen, nämlich „Sehen und (Selbst-)Gesehen-werden“, und gerade das „Gesehen-werden“ aus Gründen der Selbstdarstellung und der Repräsentation ästhetisch besonders attraktiv finden. Die biologisch-aggressiven Bedürfnisse der frühen Menschen nach Überleben im Kampf ums Dasein unterscheiden sich zu sehr von den friedlich-ästhetischen Bedürfnissen heutiger Menschen, als dass die vage Ähnlichkeit zwischen prähistorisch-afrikanischer Savanne und modern-mitteleuropäischer Landschaft eine ästhetische Herleitung des Einen aus dem Anderen rechtfertigen würde. Der bekannte amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond (1993) bringt ein weiteres, stichhaltiges Argument vor, wenn er schreibt, der einseitige Fokus auf dem Savannen-Habitat sei übertrieben, da die Menschen im Laufe ihrer zehntausend Generationen langen Geschichte auf viele andere Habitate gestoßen seien, die ebenfalls zu angeborenen Verhaltensreaktionen geführt hätten, aber in den Savannen-Thesen unberücksichtigt blieben. Dieser internen Kritik ist nichts hinzuzufügen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die psychischen Fähigkeiten ästhetisch-bildhaften Erlebens wie Wahrnehmen, Reflektieren, Erinnern, Fühlen, Bewerten usw. gehören zwar zu unserer biologischen Grundausstattung. Was jedoch in unseren Landschaftsbildern wahrgenommen, reflektiert, mit unseren Erinnerungen abgeglichen und mit ästhetisch wirksamen Gefühlen und Werten versehen ist, lässt sich nur kulturell erklären. So spiegelt sich in unseren ästhetischen Landschaftsbildern die Grundeinsicht der philosophischen Anthropologie wider, dass wir als Menschen Natur- und Kulturwesen zugleich sind. Und unsere ästhetischen Landschaftsbilder, die uns bezaubern und beglücken können, sind genau diesem Doppelcharakter der menschlichen Psyche geschuldet. Nutzen wir dieses Potential, damit wir angesichts des rasanten technischen Fortschritts in Zukunft nicht in einem ‚Land ohne Landschaft’ leben müssen!

Literatur

Appleton, J. (1975): The experience of landscape. John Wiley & Sons, London

Diamond, J. (1993): New Guineans and their Natural World. In: Kellert, S.R. und Wilson, E.O. (Hg.), The Biophilia hypothesis, 251 – 271. Island Press, Washington, D.C.

Gadamer, H.-G. (1983): Die Aktualität des Schönen – Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Reclam Verlag, Stuttgart

Lorenz, K. (1992): Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen. 42. Aufl. Deutscher Taschenbuch Verlag, München

Nohl, W. (2010): Landschaftsästhetisches Erleben – Grundformen und ihre nachhaltige Wirkung. In: Stadt und Grün, Jg. 59, Nr. 2, 29 – 36

Nohl, W. (2015): Landschaftsästhetik heute – Auf dem Wege zu einer Landschaftsästhetik des guten Lebens. Oekom Verlag, München

Nohl, W.; Neumann, K. (1987): Ästhetische Wahrnehmung der Landschaft und Freizeitmoti-vation oder wie beurteilen Wintersportler ihr Skigebiet im sommerlichen Zustand? In: Landschaft+Stadt, Jg. 19, Nr. 4, 156 – 164

Orians, G.H.; Heerwagen, J.H. (1992): Evolved responses to landscapes. In: Barkow, J. H.; Cosmides, L.; Tooby, J. (Hg.), The adapted mind – Evolutionary psychology and the generation of culture, 555 -579. Oxford University Press, New York

Letzter Teilbeitrag aus: Nohl, W.: Das Landschaftsbild – ein Lebenselixier. Zur Bedeutung der Landschaftsästhetik heute. In: Natur und Naturschutz in Mecklenburg-Vorpommern, Greifswald 2021, 49: 104-129)

Zum Autor:

Dr. Werner Nohl war bis zu seinem Ruhestand 2020 als freischaffender Landschaftsarchitekt, Honorarprofessor an der Technischen Universität München und als öffentlich bestellter Sachverständiger für Landschaftsästhetik und Erholungswesen tätig. Seit November 2021 ist er Beirat im Verein für Landschaftspflege, Artenschutz & Biodiversität e.V. (VLAB).

 

4 Gedanken zu „Zukünftige Landschaftsbilder und ihre ästhetischen Erlebniswirkungen“

  1. DIE UCKERMARK
    ===============
    einst wunderschöne eiszeit geprägte ruhende landschaften – ein paradies – erholung für die seele.

    nun zur industrielandschaft zweckbestimmt verkommen – kein freier hügel mehr – folter – das neue guantanamo – beständiges pulsierendes brummen tag und nacht – tausende rot blinkende WK anlagen bis zum horizont. unruhige krankmachende landschaften – geopfert.

    immer mehr und mehr – zerstörung unseres lebensraums.

    die zukunft wird erweisen was für politische fehleinschätzungen – naturverbrechen hierbei begangen werden.

    scheints das ist unsere neue natur !

    1. Lieber Ronny Niebach, die vielfältigen bäuerlichen Kulturlandschaften wurden seit mehr als 60 Jahren den Einfamilienhaussiedlungen, Wochenendhäusern, Carports, Umgehungsstraßen. LIDL-Märkten etc. geopfert. Die vielen dank Pendlerpauschale, Bausparverträge und Leasingraten auf dem Land Lebenden und Erholenden beschweren sich, dass nun zusätzlich zu ihren eigenen Zumutungen etwas Neues kommt. Ich stamme aus Oberhessen und habe genau diese beschriebene Entwicklung seit meiner Kindheit verfolgt, daher finde ich es nicht ehrlich, wenn ausgerechnet Windkraft und Solarpanele Schuld an der Zerstörung der Kulturlandschaft haben sollen. Jenseits davon wurde das Bild der Uckermärkischen Gutslandschaft bereits durch die Kollektivierung verändert.

  2. Prof. Nohl breitet mit dieser dreiteiligen Serie eine psychosoziale Analyse der Naturästhetik aus. Wenn ich Teil III richtig verstanden habe, müssen wir uns von der Naturästhetik der Romantik, des Wandervogels, des dritten Drittels des 20 Jh. nun verabschieden; wir müssen uns in Zukunft ästhetisch angenehme Bereiche allenthalben zusammensuchen; die Landschaftsplaner und – Ausgestalter sind gefordert, im Sinne einer ästhetischen Daseinsfürsorge auf Wirtschaft und Politik einzuwirken; die Justiz wird gefordert sein, den ästhetischen Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürgern ggf. Geltung zu verschaffen.

    1. Lieber Herr Ahrens-Botzong,
      Sie haben Herrn Nohl vollkommen richtig verstanden und seine Intention in wenigen Zeilen hervorragend zusammengefasst.
      Der VLAB wird und muss in diesem Jahr den politisch und naturschutzrechtlich vollkommen vernachlässigten Landschaftsschutz noch stärker als bisher in den Mittelpunkt seiner Arbeit rücken. Zu diesem Zweck veranstalten wir im November ein eintägiges Symposium im Umweltzentrum Schloss Wiesenfelden.
      https://www.landschaft-artenschutz.de/event/symposium-arten-und-landschaftsschutz-versus-energiewende/

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