Politikum Weihnachtsfichte: Einen alten Baum zu fällen, nur damit er ein paar Wochen mit Lichterketten behangen auf dem Weihnachtsmarkt steht, ist verpönt. Für Spott sorgen dagegen windschiefe, kranke Exemplare.
Watchblog-Glosse Etscheits Alltagsstress
Auf dem Münchner Marienplatz haben sie gerade wieder den großen Christbaum aufgerichtet. Dafür muss immer ein Tieflader anrücken. Dann wird der Baum mit einem Kran in die Senkrechte gebracht und von Elektrikern des städtischen Bauamtes mit Lichterketten behängt, auf dass er bis zum Heiligen Abend die Besucher des Münchner Christkindlmarktes erfreut.
Es ist seit 1977 Tradition, dass jedes Jahr eine andere bayerische Kommune der Landeshauptstadt eine mehr oder weniger schöne Weihnachts-Fichte spendiert. Heuer kommt sie aus dem oberbayerischen Farchant, ist 25 Meter hoch und 142 Jahre alt.
Im vergangenen Jahr war die großherzige Gabe der Stadt Burghausen am Inn ein rechter Schlag ins Wasser. Jedenfalls hatten die Boulevardmedien allerhand zu meckern. Der Stamm war zu dick, er passte nicht in das für ihn vorgesehene Loch im Boden. Außerdem war er in der Mitte ziemlich dürr. Bild meckerte programmgemäß über den “Mager-Baum”. Bei einer Umfrage der Abendzeitung hielten sich “schön”, “geht so” und “absolut greislig” in etwa die Waage. 2015 war das Urteil dagegen eindeutig. Da ging das von der Touristen-Gemeinde Ruhpolding erwählte Zausel-Exemplar als “traurigster Weihnachtsbaum der Welt” durch die sozialen Medien.
Um die üblichen vorweihnachtlichen Nörgeleien gar nicht erst aufkommen zu lassen, schwärmt die Stadt München heuer per amtlicher Mitteilung schon mal vorsorglich von einem “wahren Prachtbaum”. Doch die Christbaum-Defätisten geben keine Ruhe.
“142 Jahre alt, 31 Meter hoch. Muss das sein? Ich bin ein Fan deutscher Advents- und Weihnachtstradition, aber hier blutet mein Herz schwer”, schreibt eine gewisse Uta Forstmair Sancho auf der Münchner Facebookseite. Abgesehen davon, dass der Baum – nach dem Zurechtstutzen für den Marienmarkt – amtlicherseits nur 25 Meter hoch ist, legt Frau Forstmair Sancho den Finger in eine Wunde, die dieses Jahr besonders schmerzt.
Konsequent wäre der baumfreie Baum
Darf man in Zeiten des Klimawandels, in denen wirklich jeder Baum gebraucht wird, nur zum Spaß eine so alte Fichte fällen und unter Produktion von Diesel-Feinstaub und CO2 in die Landeshauptstadt verfrachten? Von Farchant bei Garmisch-Partenkirchen nach München sind es immerhin 84 Kilometer. Keine Ahnung, was so ein Tieflader verbraucht, aber sicher könnte man mit dem Energieäquivalent alle Münchner E-Bikes die ganze Adventszeit mit Strom versorgen. Und dann steht er nur so herum, der Baum, wird auch noch elektrisch beleuchtet und am Ende weggeschmissen. Das geht gar nicht.
Ich hab jetzt noch keinen Antrag der Münchner Stadtgrünen gefunden, wonach man fürderhin auf einen wilden Christbaum verzichten und auf ein wiederverwertbares Exemplar aus Recyclingkunststoff umstellen solle. Aber, liebe Grüne, was nicht ist, kann ja noch werden.
Anregungen gibt’s im Internet zuhauf: vom größten schwimmenden Weihnachtsbaum der Welt in Rio de Janeiro, einer 542 Tonnen schweren, 85 Meter hohen und mit angeblich 3,3 Millionen Glühlampen beleuchteten Stahlkonstruktion, über den etwas präpotenten Swarowsky-Kristallbaum in Innsbruck bis zum kunterbunten Popbaum aus Stofftieren und Luftballons, wie er 2017 die Galeries Lafayette Haussmann in Paris zierte. Vielleicht könnte man für die Öko-Hochburg München ja ein grün angemaltes Windrad auf dem Marienplatz aufstellen, das den Strom für seine Lichterketten selbst erzeugt.
Jetzt aber Spaß beiseite. Der Jahrhundertsommer hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Im August berichtete die Süddeutsche Zeitung, dass in Nord- und Ostdeutschland bis zu hundert Prozent der Weihnachtsbaum-Neuanpflanzungen schlicht vertrocknet seien.
Dieses Jahr wirke sich das noch nicht aus, wurde ein besorgter Sprecher des Bundesverbandes der Weihnachtsbaumerzeuger zitiert. Doch in acht bis zehn Jahren könne es zu Engpässen kommen. Hoffen wir, dass die Ernte in Dänemark besser ausfällt. Aber vielleicht ging es dem Mann auch nur darum, von der Bundesregierung eine Weihnachtsbaumerzeugernothilfe zu ergattern.
“Weitere Karriere als Maibaum”
Noch ein Blick in Deutschlands Osten, in die sächsische Lebkuchenmetropole Pulsnitz. “Ein bisschen speziell” fand die Sächsische Zeitung den Weihnachtsbaum, der dieses Jahr auf dem Markt der kleinen Stadt zu besichtigen ist, und dichtete: “O weh, Tannenbaum!” Das Corpus Delicti ist eine reichlich windschiefe Blaufichte mit zwei Spitzen, die zuvor vor der örtlichen Kita “Kunterbunt” stand.
Der Baum habe ohnehin gefällt werden müssen, weil er zu viel Schatten geworfen habe und nicht ganz gesund gewesen sei, rechtfertigte Bürgermeisterin Barbara Lüke die ungewöhnliche Wahl. Die Natur sei gebeutelt genug durch die Stürme, da müsse nicht auch die schönste Tanne für den Markt geopfert werden.
Liebe Frau Lüke, vielen Dank dafür! Das ist wirklich ein schönes Zeichen verantwortungsvollen politischen Handelns in Zeiten der Klima- und Ökokrise. Schließlich sind umweltbewusste Menschen ja zwecks Lebensmittelmüllvermeidung auch gehalten, wieder vermehrt zu Schrumpelmöhren, verkrüppelten Kartoffeln und fleckigem Rosenkohl zu greifen.
Bleiben Sie stark, liebe Frau Lüke und lassen Sie sich nicht einschüchtern von den Schönheitsfanatikern. Nichts ist perfekt in Zeiten wie diesen! Halten Sie es mit den Pragmatikern im Internet, die sagen: “Hauptsache, er fällt nicht um.”
Der Münchner Christbaum soll übrigens, wenn er nicht umfällt, was nicht zu erwarten ist, noch bis zum 9. Januar auf dem Marienplatz ausharren. Dann wird er abgebaut und steht laut Mitteilung “für eine weitere Karriere als Maibaum zur Verfügung”. Danach wird wohl Brennholz aus ihm. Das nennt man umweltfreundliche Kaskadennutzung.